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Die künftigen Bedrohungsszenarien auf dem Gebiet der Gesundheit sind zahlreich. Dazu gehören mit Sicherheit leere Staatskassen, ungesicherte Medikamentenversorgung und die eine oder andere Virenmutation. Bereits heute spürbar ist die Verknappung an heilenden Händen. Der Fachkräftemangel wird eine der größten Herausforderungen des Gesundheitssektors im nächsten Jahrzehnt. Nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie hat aufgezeigt, wie sehr das Funktionieren eines Versorgungssystems von einer stabilen Personalausstattung und gut ausgebildeten und motivierten Fachkräften abhängt. Quantitative und qualitative Mängel münden bei einer Pandemie unmittelbar in fatale Versorgungslücken.
Auf den ersten Blick erscheinen die Trends beruhigend: In allen EU-Ländern mit Ausnahme von Schweden ist der Personalstand im Gesundheits- und Sozialbereich auf einem historischen Höchststand. Die Zahlen sind stolz: Die Ärztedichte stieg im gesamten EU-Raum von 3,1 pro 1000 Einwohner im Jahre 2002 auf 3,6 im Jahre 2012 und 4,2 im Jahre 2022. Österreich weist mit 5,4 praktizierenden Ärzten pro 1000 Einwohner die höchste Ärztedichte auf. Die Anzahl der Pflegekräfte ist in den europäischen Ländern während des letzten Jahrzehnts von durchschnittlich 7,3 auf 8,4 pro 1000 Einwohner gestiegen. Norwegen, Finnland, Irland und Deutschland sind mit mehr als 12 diplomierten Pflegepersonen pro 1000 Einwohner am besten ausgestattet, Österreich liegt mit 11,0 ebenfalls noch deutlich über dem europäischen Durchschnitt (siehe Kasten). 2022 erhob das Institute of Health Metrics and Evaluation (IHME) in der EU aber einen Fehlbedarf von 1,2 Millionen Ärzten, Pflegekräften und Hebammen.
In 20 EU-Ländern fehlten Ärzte, in 15 EU-Ländern Pflegepersonal. Diese Schätzungen beruhen auf der Global Burden of Disease Study 2019, welche einen minimalen medizinischen Personalstand für eine 90%ige Abdeckung des Versorgungsbedarfes einer Region ableitete. Die Grenzen liegen demnach bei 3,54 Ärzten und 11,45 Pflegekräften und Hebammen pro 1000 Einwohnern. Diese theoretisch ermittelten Zielwerte können den tatsächlichen Personalbedarf eines Landes übertreffen, der von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird. Die Zahlen stellen lediglich grobe Richtwerte für politische Debatten und Entscheidungen dar. Tatsächlich sehen wir aber ein doppeltes demografisches Phänomen: Der Fachkräftemangel wird sich noch zuspitzen, da einerseits die alternde Bevölkerung höhere medizinisch-pflegerische Versorgungsbedarfe haben wird und andererseits auch die Pensionierungswelle der „Baby-Boomer“-Generation in den Gesundheitsberufen immer schwieriger durch neu ausgebildete Fachkräfte ersetzt werden kann. Der Anteil von über 65-Jährigen hat in der EU von 16 Prozent im Jahre 2000 auf 21 Prozent 2023 zugenommen und wird bis 2050 wegen der höheren Lebenserwartung und der sinkenden Fertilität wahrscheinlich 30 Prozent erreichen.
Die systematische Analyse der Personalsituation im Gesundheitswesen muss sowohl Faktoren berücksichtigen, welche das Arbeitskräftepotenzial (work force) beeinflussen, als auch jene, die den Bedarf bestimmen. Die Anzahl der Arbeitskräfte wird erhöht durch abgeschlossene Ausbildungen und Zuwanderung und wird erniedrigt durch Berufsaussteiger, Pensionierungen und Abwanderung. Die Produktivität der Arbeitskräfte hängt ab von der verfügbaren bzw. geleisteten Arbeitszeit und der Optimierung ihrer Verwendung, z.B. der Arbeitsverteilung unter den Berufsgruppen (skill-mix) oder dem Einsatz von unterstützenden Technologien inklusive der prozessorientierten Arbeitsorganisation. Die Produktivität von Ärzten ist umso größer, je mehr ärztliche Tätigkeiten durch andere Berufsgruppen substituiert werden können. Ärztliche Arbeitszeit kann durch den Einsatz von KI-gestützten Diagnostik-Tools oder Telemedizin effizienter und produktiver gemacht werden. Der Bedarf an Versorgungsleistungen durch Fachpersonal wiederum hängt von der Demografie, der Krankheitslast (Morbidität) und dem Ausmaß der gesundheitstechnologischen Unterstützung der Bevölkerung ab. Schließlich haben auch der Wohlstandslevel und die Höhe der Gesundheitsausgaben in einer Volkswirtschaft Einfluss auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.
Eine naheliegende Reaktion auf Fachkräftemangel ist die verstärkte Ausbildung, obwohl damit erst nach längerem Verlauf mit einem Effekt gerechnet werden kann. Der Trend zu höheren Ausbildungsraten für Mediziner und Pflegekräfte war bereits im Zeitraum von 2012 bis 2022 vorhanden und verursachte den zahlenmäßigen Anstieg von Ärzten, weniger von Pflegekräften. Der Grund, warum die Zahl der abgeschlossenen Pflegeausbildungen nur gering anstieg, lag nicht an den Ausbildungsplätzen, sondern an der höheren Dropout-Rate. Der Output von neuen Ärzten variierte von unter 12 pro 100.000 Einwohner in Norwegen, Slowenien, Estland und Deutschland bis zu über 24 in Irland, Rumänien, Lettland, Malta und Bulgarien. Bulgarien, Rumänien und Irland boten attraktive Studienplätze auch für Ausländer an, was zur Folge hatte, dass diese graduierten Mediziner später nicht im jeweiligen Ausbildungsland, sondern in ihren Heimatländern tätig wurden. Auch in der Pflege liegen die Ausbildungszahlen weit gestreut, wobei bei den Spitzenreitern Rumänien und Griechenland mit über 100 Ausbildungen pro 100.000 Einwohner diese überwiegend unter den Qualifikationsanforderungen der EU lagen. In Norwegen, Island, Finnland, Kroatien und den Niederlanden werden ebenfalls überdurchschnittlich viele Pflegekräfte ausgebildet. In Österreich graduierten 2022 16,19 Mediziner pro 100.000 Einwohner und schlossen 45,4 Pflegekräfte pro 100.000 Einwohner ihre Diplomausbildung ab. Den verstärkten Ausbildungsinitiativen steht allerdings ein schwindendes Interesse der Jugendlichen an den Gesundheitsberufen gegenüber, welche nach den Ergebnissen der PISA-Studie vornehmlich informations- und kommunikationstechnische Berufe anstreben.
Als weitere Maßnahme gegen den Personalmangel wird die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gesehen, um die Arbeitskräfte länger im Beruf zu halten. Während der COVID-19-Pandemie waren die Gesundheitsberufe naturgemäß besonders belastet, was sich folglich in Überlastung, Unzufriedenheit und teilweise erhöhten Kündigungsraten ausdrückte. Zeitgleich schlug der Trend zur Arbeitszeitreduktion durch, welcher ursächlich aus dem Wunsch nach flexiblerer Lebensgestaltung herrührte. Durch die Mangelsituation am Arbeitsmarkt war der Wunsch nach einer besseren „work-life-balance“ leichter durchsetzbar. Die wöchentliche Arbeitszeit bei Ärzten verkürzte sich von 2012 auf 2022, sodass trotz zahlenmäßigem Zuwachs an Stellen nur eine geringe Zunahme an Vollzeitäquivalenten resultierte. Sowohl Ärztinnen als auch Ärzte reduzierten die Wochenarbeitszeiten, der größte Teil der Arbeitszeitverkürzung ging allerdings auf die Feminisierung zurück, da Ärztinnen geringere Wochenarbeitszeiten von 39,5 Wochenstunden leisten im Gegensatz zu 43,2 Wochenstunden der männlichen Kollegen. Die Arbeitszeiten im Pflegebereich blieben hingegen stabil. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Attraktivierung der Arbeitsplätze, wie bessere Ausbildungsmöglichkeiten, Coaching und Mentoring, Bürokratieabbau etc. sind allesamt bekannt, jedoch genauso leicht oder schwer umsetzbar wie vor der Pandemie und dem entstandenen Personalmangel. Sie sollten von den verantwortlichen Führungskräften aber tunlichst ernst genommen werden. Initiativen in Ausbildung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind mit großen finanziellen Investitionen verbunden. Nach OECD-Schätzungen liegt dieses Investitionsvolumen europaweit bei 0,6 Prozent des Bruttoinlandproduktes, was jedoch noch gering ist im Vergleich zu den ökonomischen und sozialen Kosten fragiler oder versagender Versorgungssysteme.
EU-Durchschnitt Ärztedichte
Eine andere Möglichkeit, den Personalmangel wenigstens kurz- bis mittelfristig abzumildern, besteht in der Beschäftigung der Fachkräfte über das Pensionsalter hinaus. In Italien sind bereits über 27% des medizinischen Personals über 65 Jahre alt und 2024 wurde das obligate Pensionierungsalter von Ärzten im öffentlichen Dienst von 70 auf 72 Jahre angehoben. Auch in Belgien, Frankreich, der Slowakei und Deutschland steigt der Anteil der berufstätigen Ärzte über 65 Jahren. Die Attraktivität für Gesundheitsberufe durch marktgerechte Lohnerhöhungen zu steigern, ist für den Gesundheitssektor insofern schwierig, da die Löhne nicht den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage folgen und das Angebot an ausgebildeten Fachkräften nur sehr unelastisch auf Lohnerhöhungen reagieren kann. Besonders bei den Pflegekräften herrscht große Unzufriedenheit mit der Entlohnungssituation. In Folge der Pandemie wurden die Gehälter von Pflegekräften in Ungarn, Polen, Slowenien, Estland und Frankreich signifikant angehoben, die Inflation der Folgejahre ließ das reale Einkommen aber wieder absinken, sodass sich die finanzielle Situation der Pflege definitiv nicht verbesserte.
Rekrutierung von Gesundheitspersonal im Ausland wird von manchen europäischen Ländern als Maßnahme versucht, kann jedoch nur bedingt als temporäre Notlösung betrachtet werden und schafft Probleme in den Ursprungsländern ohne nachhaltigen Effekt in den Zielländern. 2023 waren über 40 Prozent der Ärzte in Norwegen, Irland und der Schweiz aus dem Ausland und über 50 Prozent der Pflegekräfte in Irland. In Österreich sind 13,4 Prozent der Pflegekräfte aus dem Ausland und 7,5 Prozent der Ärzte. Die hauptsächlichen Migrationsströme von Gesundheitspersonal finden dort statt, wo die Sprachbarrieren zwischen Quell- und Zielländern gering sind: UK rekrutiert aus Indien, Pakistan und Nigeria, die Schweiz aus Deutschland, Frankreich und Italien.
Personelle Engpässe in Krankenhäusern werden oftmals durch Leasingpersonal ausgeglichen. Häuser, welche damit versuchen ihre Probleme zu lösen, handeln sich aber dafür andere ein. Erstens kostet Leasingpersonal bis zum Dreifachen des regulären Personals und zweitens ergeben sich auch Teamkonflikte, wenn unterschiedliche Gehälter für die gleiche Arbeit bezahlt werden.
Die norwegische Regierung hat eine tiefgreifende Analyse der Entwicklungen des Personalsektors im Gesundheitswesen ihres Landes in Auftrag gegeben, welche 2023 zu einem sehr ernüchternden Ergebnis kam. Zwar beschäftigt der norwegische Gesundheitsbereich mehr als 400.000 Personen oder 15 Prozent aller Berufstätigen (der höchste Wert in Europa), wird aber in Zukunft wegen des gegenläufigen demografischen Trends die Versorgung in der bisherigen Form nicht aufrechterhalten können. Anstatt weitere Personalzuwächse anzustreben, die ohnehin zukünftig weder durch Rekrutierungen im Inland noch im Ausland möglich sein werden, empfiehlt die Kommission eine Steigerung der Produktivität bestehender Personalressourcen durch Umverteilung von Aufgaben, integrierte Versorgungsprozesse, Einsatz von Technologie, aber auch durch kritische Überlegungen zum beanspruchbaren Versorgungslevel.
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Quelle: ÖKZ 02/2025 (Jahrgang 66), Springer-Verlag